"Rechtsräume". Historisch-archäologische Annäherungen

"Rechtsräume". Historisch-archäologische Annäherungen

Organisatoren
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2015 - 19.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Simon Groth / Dennis Majewski, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

Der am Max-Planck Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main angesiedelte „Forschungsschwerpunkt Rechtsräume“ veranstaltete in Kooperation mit der Forschungsstelle „Kaiserpfalz Ingelheim“ vom 17. bis zum 19. September 2015 eine internationale Fachtagung, auf der aus wechselnden Perspektiven die Konstituierung von Räumen thematisiert wurde. Ziel der Veranstaltung war der Austausch verschiedener Disziplinen über Möglichkeiten und Grenzen der übergeordneten Leitfrage. Vor diesem Hintergrund konkretisierte der Untertitel „Historisch-archäologische Annäherungen“ das Anliegen des ersten Kolloquiums. Daher war der Begriff ‚Raum‘ bewusst weitgespannt und zunächst einmal offengelassen, ging es doch um den Versuch, eine Arbeitsgrundlage für den Forschungsschwerpunkt zu ermitteln und von variierenden Ansätzen und Denkmodellen zu profitieren. Durch den allen Beiträgen zugrundeliegenden Rekurs auf die Reziprozität von Recht (im Sinne normativer Ordnungen) und Raum erhielten die in sehr unterschiedlichen Kontexten angesiedelten Beiträge eine verbindende Klammer.

Die einzelnen Beiträge waren in sieben Sektionen gruppiert, die durch einen öffentlichen Abendvortrag von PATRICK GEARY (Princeton) ergänzt wurden, in dem er die Erforschung der langobardischen Wanderungen mit Hilfe der Paläogenetik skizzierte und ihre technischen Möglichkeiten und methodischen Grenzen aufzeigte. Die einzelnen Sektionen bildeten einen jeweiligen thematisch-disziplinären Rahmen und fungierten damit als Bausteine, die zusammengesetzt das archäologisch-historische Fundament des Forschungsschwerpunktes ergeben sollten.

Nach der Begrüßung durch den geschäftsführenden Direktor des Institutes, Thomas Duve (Frankfurt am Main), und einer Einführung von CASPAR EHLERS (Frankfurt am Main), in der die spezifischen Schwierigkeiten der Übertragung der Begrifflichkeiten des Forschungsschwerpunktes in andere (Wissenschafts-)Sprachen hervorgehoben wurden, stand der Auftakt der Tagung zunächst im Zeichen ‚klassischer‘ geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen. JENS SCHNEIDER (Paris) eröffnete die mit „Raum in der Geschichtswissenschaft“ überschriebene Sektion mit einem Referat zu Raumkonzepten in der historischen Forschung, mit denen sich verschiedene Ausprägungen von ‚Räumen‘ unterscheiden lassen. Dieser Faden wurde von DENNIS MAJEWSKI (Frankfurt am Main) aufgegriffen, der am Beispiel ausgewählter zisterziensischer Klöster eine messbare Gestaltungsgröße mittelalterlicher Räume vorstellte. Daran anknüpfend präsentierte JESSIKA NOWAK (Frankfurt am Main) Überlegungen zum Königreich Burgund und erweiterte damit den regionalen Ansatz von Majewski durch eine überregionale Perspektive. Ihre Auswertung der Urkundenüberlieferung der burgundischen Könige machte die Veränderungen der Raumnutzung durch die einzelnen Herrscher nachvollziehbar. Den Abschluss bildete der Beitrag von SIMON GROTH (Frankfurt am Main) über den Zusammenhang von Raum und Herrschaft unter Otto dem Großen. Groth konnte zeigen, dass das Kaisertum Ottos eine einschneidende Zäsur in der Herrschaftspraxis des Sachsen darstellt, da dieser im Anschluss an seine Kaisererhebung fast ausschließlich südlich der Alpen weilte.

Als Analogon zu diesen konkreten Raumdimensionen verstand sich die Sektion über „Konstruierte Räume“, in der JÜRGEN STROTHMANN (Siegen) und LAURY SARTI (Berlin) der Kontinuität des antiken Römischen Reiches nachgingen. Während Strothmann dabei insbesondere auf die Rolle von Kommunikation in einem weitgefassten Verständnis abhob, die sich etwa im Gebrauch von Goldmünzen konkretisieren konnte, verglich Sarti konkurrierende Konzeptionen des Orbis Romanus in fränkischen und byzantinischen Quellen des Frühmittelalters.

Der Archäologie und Bauforschung widmeten sich insgesamt vier Sektionen, von denen die erste mit „Neue Ansätze der Archäologie“ überschrieben war und auf Grabungsbefunde aus Ingelheim Bezug nahm. Dabei stellte PETER HAUPT (Mainz) zunächst grundsätzliche Reflexionen über archäologische Methoden zur Rekonstruktion von Raum und Landschaft vor, während PIOTR NOSZCZYNSKI (Ingelheim) den Grabungsbefund der Ingelheimer Remigius-Kirche kommentierte. JAN CEMPER-KIESSLICH (Salzburg) ergänzte diese archäologischen Ausführungen durch eine biologisch-forensische Perspektive und illustrierte, welchen Teil die moderne Genomanalyse zur Auswertung derartiger Befunde leisten kann. Die gentechnische Untersuchung der Ingelheimer Sepulturen ergab einen überraschenden Befund, denn die vier dort bestatteten Individuen weisen übereinstimmend eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum auf.

In der Sektion „Orte und Raum in Zentraleuropa“ wurde der Blick über den jeweiligen Ort hinaus gerichtet und durch die Beiträge von Piotr Noszczynski zu Ingelheim, von ANDREAS SCHAUB (Aachen) zu Aachen und EGON WAMERS (Frankfurt am Main) zu Frankfurt am Main in einen raumübergreifenden Zusammenhang gerückt. Noczcynski führte plastisch die neuen Erkenntnisse vor Augen, welche jüngste Ausgrabungen und Untersuchungen am Fundmaterial in dieser großen Pfalz ergeben haben, die schon Einhard als herrlichen Palast bezeichnet hatte. Schaub, der ausgehend vom römischen vicus die Topographie Aachens aus archäologischer Perspektive eingehend analysierte, fragte nach dem Kastell als eigenem Rechtsraum, nach den Orten, denen innerhalb des Kastells eine besondere Bedeutung zukam, sowie nach deren fortifikatorischem Stellenwert. Auch Wamers thematisierte, als er die bauliche Entwicklung der Pfalz Frankfurt Revue passieren ließ, deren Bedeutung als Stätte des Rechts und als Ort, an dem geurkundet, Gesetze erlassen und Recht gesprochen wurde, wobei er nicht zuletzt auf die Synode von 794, auf der Tassilo erneut Abbitte zu leisten hatte, und auf den Prozess von 823 verwies.

Die vornehmlich altertumswissenschaftlich ausgerichtete Sektion „Stadt und Palastbauten“ widmete sich vor allem den Fragen nach Repräsentation von Macht und Herrschaft im Raum, was ULRIKE WULF-RHEIDT (Berlin) und JENS PFLUG (Berlin) anhand von Raumkonzepten im stadtrömischen Palast der Flavier vorführten und auf die Funktion von ‚gebautem‘ Raum als Spiegel sozialer Herrschaftspraxis eingingen. ROLAND FÄRBER (Frankfurt am Main) veranschaulichte die Bedeutung von Gerichtsstätten in städtebaulichen Kontexten im Raum des Römischen Reiches und machte auf die spezifische Varianz dieser Orte aufmerksam.

Diesen Ergebnissen zur Seite gestellt war die dem Frühmittelalter gewidmete Sektion „Bauhandwerk und Umland“, in der JUDITH LEY (Aachen) und KATARINA PAPAJANNI (Lorsch) ihre bauhistorischen Untersuchungen zur Königspfalz in Aachen und zur nicht weniger bekannten Torhalle des Klosters Lorsch präsentierten, wobei beide die Bedeutung des Wissens- und Technologietransfers im karolingischen Europa hervorhoben. Vor allem die Hinweise auf die Anwendung römisch-antiker Bautechnik an diesen karolingischen Zentralorten nördlich der Alpen geben zu denken und legen die Vermutung nahe, dass Bauleute aus Italien eingesetzt worden sein könnten.

Eine zusätzliche Facette wurde durch die Erweiterung des meist auf Zentraleuropa gerichteten Blickes auf Skandinavien gewonnen („Raum in der Archäologie des nördlichen Europas“). Zunächst zeichnete FRODE IVERSEN (Oslo) die Entwicklung von sogenannten „Thing Sites“ in Norwegen im ersten Jahrtausend nach und konnte die Korrelation von administrativer Ordnung des geographischen Raumes und architektonischer Anlage der Räume der ihnen entsprechenden Verhandlungsplätze sichtbar machen. Diese gegenseitige Beeinflussung von gedachter Ordnung und realer Ausführung präsentierte auch ALEXANDRA SANMARK (Kirkwall) bei ihrer Analyse schwedischer „Thing Sites“ und führte diese Plätze als durchdachte Orte symbolischer Raumerfassung vor, in denen schriftlose Gesellschaften einen Raum für kollektive Erinnerung schufen. MARKUS C. BLAICH (Hildesheim) knüpfte an diese Phänomene an, indem er die jüngsten archäologischen Befunde zu Anlage und Entwicklung norddeutscher Zentralorte im einstmaligen Herzogtum Sachsen des 10. Jahrhunderts ausführte.

Die internationale Tagung erreichte ihr Ziel, die Vielschichtigkeit des Begriffes „Raum“ mit seinen unterschiedlichen methodischen Zugängen als übergreifende Diskussionsgrundlage verwendbar zu machen. Dabei rückte mittels der vier den Referenten vorgegebenen Leitmotive (Raumbegriff – Quellen – methodische Ansätze – Perspektiven) vor allem die Frage ins Zentrum, ob sich „Raum“ als wissenschaftlicher Ansatz auf ‚existierende‘ beziehungsweise rekonstruierbare Topographien oder eher auf gedachte Strukturen anwenden lässt. Da durch die Referenten die engen Grenzen der wissenschaftlichen Fachrichtungen aufgehoben waren, konnten sich in den Vorträgen und den Diskussionen die jeweiligen Erkenntnisgrenzen der Disziplinen herauskristallisieren und das Potential des interdisziplinären Austausches wiederholt vor Augen geführt werden. Die Teilnehmer waren sich einig, dass es allgemeingültige – interdisziplinär wie international anwendbare – Definitionen des Begriffes „Raum“, aber auch der mit ihm in Verbindung stehenden Terminologien, noch nicht gibt und vielleicht auch niemals geben wird. In der Abschlussdiskussion wurde dann auch die Perspektive eines durch den „Forschungsschwerpunkt Rechtsräume“ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte projektierten ‚Dictionnaires‘ erörtert, mithilfe dessen ein fächerübergreifendes, raumspezifisches Vokabular zur gemeinsamen Gesprächsgrundlage erarbeitet werden könnte. Eine anvisierte zweite Tagung des Forschungsschwerpunktes wird dann ganz im Zeichen des Dialoges mit den Rechtswissenschaften stehen, um die bisherigen Überlegungen weiter zu vertiefen.

Konferenzübersicht:

Thomas Duve (Frankfurt am Main): Begrüßung

Caspar Ehlers (Frankfurt am Main): Einführung

Raum in der Geschichtswissenschaft
Moderation: Caspar Ehlers (Frankfurt am Main)

Jens Schneider (Paris): Produziert, generiert, angeeignet oder verdichtet? Die Räume des Historikers

Dennis Majewski (Frankfurt am Main): Durchdringen, erfassen und erschließen. Mittelalterliche Klöster als raumstrukturierende Kräfte

Jessica Nowak (Frankfurt am Main): Prekäre Macht, changierender Raum – Überlegungen zum Königreich Burgund (888-1032)

Simon Groth (Frankfurt am Main): Raum und Herrschaft. Das Kaisertum Ottos des Großen

Neue Ansätze der Archäologie
Moderation: Caspar Ehlers (MPIeR, Frankfurt am Main)

Peter Haupt (Mainz): Archäologische Methoden zur (Re-)Konstruktion von Raum und Landschaft

Johannes Krause (Jena): Die genetische Herkunft der Europäer: Genomweite Analysen prähistorischer Skelette aus Westeurasien (krankheitsbedingter Ausfall)

Jan Cemper-Kiesslich (Salzburg): Molekulare Migration. Zur DNA-Analyse der hochmittelalterlichen Sepultur in Ingelheim

Piotr Noszczyski (Ingelheim): Kommentar zum Grabungsbefund der Ingelheimer Remigius-Kirche

Stadt und Palastbauten_
Moderation: Hartmut Leppin (Frankfurt am Main)

Ulrike Wulf-Rheidt (Berlin) und Jens Pflug (Berlin): Tradition und Innovation – Raumkonzepte im flavischen Palast. Gebauter Raum als Spiegel sozialer Herrschaftspraxis am Beispiel des Palatin

Roland Färber (Frankfurt am Main): Die römische Stadt und ihre Gerichte

Bauhandwerk und Umland
Moderation: Frank Pohle (Aachen)

Judith Ley (Aachen) und Katarina Papajanni (Lorsch)

Konstruierte Räume
Moderation: Wolfram Brandes (Frankfurt am Main / Göttingen)

Jürgen Strothmann (Siegen): Das ‚unsichtbare‘ Römische Reich. Zum Fortbestehen eines Raumes über seine Todesanzeige hinaus

Laury Sarti (Berlin): „Orbis Romanus“ im frühen Mittelalter? Konkurrierende Konzeptionen in Byzanz und dem Frankenreich

Orte und Raum in Zentraleuropa
Moderation: Frank Pohle (Aachen)

Piotr Noszczyski (Ingelheim): Ingelheim: Befunde zur räumlichen Entwicklung im Frühmittelalter

Andreas Schaub (Aachen): Die frühmittelalterliche Topografie des Pfalzortes Aachen aus archäologischer Sicht

Egon Wamers (Frankfurt am Main): Frankfurt als frühmittelalterlicher Zentralort. Archäologische Befunde

Raum in der Archäologie des nördlichen Europas
Moderation: Wojciech Fałkowski (Warschau)

Alexandra Sanmark (Kirkwall): Scandinavian thing sites and the concept of thing peace

Frode Iversen (Oslo): The development of legal landscapes, Scandinavia, first millennium

Markus C. Blaich (Hildesheim): Central places and peripheral spaces in northwestern Germany from the eight century to the twelfth

Öffentlicher Abendvortrag im Archäologischen Museum, Frankfurt am Main
Patrick J. Geary (Princeton), Archäologie und Genetik. Die Erforschung der langobardischen Wanderungen mit Hilfe der Paläogenetik


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